Sonnenfängerin

(für Jutta)

Sie kann die Sonne fangen- und weiß es nicht.

Einst schien alles mühelos. Voller Mut und kindlicher Zuversicht brauchte sie nur ihren kleinen Arm auszustrecken, um den wärmsten, den hellsten Planeten zu fangen. Jeden Abend, bevor das leuchtende Rund hinter den Hügeln zu versinken drohte, wusste sie was zu tun war. Es war nicht schwer. Nur eine kurze, sanfte Handbewegung und die Sonne lag leise funkelnd in ihrer Hand. Gefangen zwischen Daumen und Zeigefinger ergossen sich glitzernden Strahlen über ihre gebräunte Haut. Ein Moment der Magie, welcher nur ihr gehörte. Das Wissen, dass die Sonne, dass das Licht ein Teil von ihr waren. Ein Puzzlestück, welches niemals verlieren durfte. Sie musste es festhalten.

Sie konnte die Sonne fangen, das wusste sie.

Einst schien alles so schwer. Voller Angst und ausgewachsener Zweifel waren ihre Arme schwer wie Blei. Gefangen in der einsamen, tiefen Dunkelheit sperrte sie des Mondes Kälte in sich ein. Jede Nacht voller Bilder, von denen sie nicht wusste, ob es Träume oder Erinnerungen waren. Alles war so mühsam. Jede noch so langsame Bewegung eine unerträgliche Qual voller Zittern und Zaudern. Zwischen Daumen und Zeigefinger nur bedrückende Leere. Ein Moment der Resignation, welcher nur ihr gehörte. Das Wissen, dass die Angst, dass die Leere ein Teil von ihr waren. Eine Spende, um welche sie nie gebeten hatte.     

Sie konnte die Sonne fangen- doch wusste es nicht.

Jetzt scheint alles möglich. Voller Anspannung und Wagemut hat sie lange nicht an die Sonne gedacht. Aber nun liegt sie da und blinzelt in das grelle Licht. Ewigkeiten sind vergangen, seit sie ihren, nun gezeichneten, Arm gen Himmel streckte, doch ihr Körper erinnert sich genau. Langsam hebt sich ihre starke Hand vor das glühende Rund. Unruhige Finger geformt zu eben jenem vertrauten Kreis, der ihr einst in Fleisch und Blut überging. Wie ein stummes Zeichen an das Universum: „Ich bin okay!“. Ein Moment der Zuversicht, welcher nur ihr gehört. Das Wissen, dass sie so viel mehr ist, als sie selbst glaubt Ein Geschenk, dass sie behalten sollte.

Sie kann die Sonne fangen – hoffentlich weiß sie das jetzt.